Ein Versuch, das belarussische politische System zu definieren
Die politische Geschichte des unabhängigen Belarus ist völlig mit der Person des amtierenden Präsidenten verbunden: Alexander Lukaschenko. Das politische System in Belarus basiert auf Traditionen, formell demokratischen Institutionen und speziell belarussischen Elementen. Da versucht wird, den verschiedenen Faktoren Rechnung zu tragen, kann man das Regime in Belarus anhand verschiedener Theorien unter-schiedlich definieren.
Widersprüchliche wissenschaftliche Blickwinkel auf das Regime in Belarus
„Offiziellen“ belarussischen Politikwissenschaftlern zufolge kann das gegenwärtige poli-tische System in Belarus als demokratisch bezeichnet werden. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass in den letzten Jahren auf die Wissenschaft starker politischer und ideologischer Druck ausgeübt wurde. Der Begriff „Demokratie“ zur Beschreibung des politischen Regimes in Belarus ist eindeutig nicht geeignet.
Unabhängige belarussische und auch ausländische Politologen vertreten einen genau gegensätzlichen Standpunkt bezüglich des Regimes in Belarus. Obwohl niemand von ihnen Belarus als eine Demokratie bezeichnet, sind sich die Forscher über die Art des Regimes nicht einig.
Leider muss man feststellen, dass die Bewertung und Charakterisierung des Regimes meist nicht auf einer gründliche Analyse der Probleme basiert, sondern oft auf einer subjekti-ven und emotionalen Haltung gegenüber Lukaschenko.
Manche Autoren definieren das Regime in Belarus als totalitär oder als eine voll entwi-ckelte Diktatur. Wir sollten dabei aber nicht vergessen, dass Terror gegen die Massen einen wesentlichen Teil des Totalitarismus ausmacht. Der Totalitarismustheorie zufolge ist der staatliche Terror nicht nur gegen die Gegner des Regimes gerichtet, sondern auch gegen die friedliche Bevölkerung. Dies ist im heutigen Belarus nicht der Fall. Obwohl Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und eine starke staatliche Kontrolle der Gesellschaft in Belarus alltäglich sind, erlaubt das Regime die Existenz einer politischen Opposition. Dies wäre in einem totalitären Regime niemals möglich.
Die Merkmale des belarussischen politischen Regimes
Die Ordnung und die Funktionsweise des politischen Regimes in Belarus sind so einzig-artig, dass man verschiedene Theorien und politikwissenschaftlichen Konzepten zu ihrer Definition anwenden kann. Im Folgenden soll anhand verschiedener Merkmale die Art des politischen Regimes bestimmt werden.
Die Herrschaftsweise: Wer entscheidet?
Der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko vereinigte in seinen Händen die Voll-machten der Exekutive, der Legislative und der Judikative. Der Verfassung zufolge ist der Präsident eigentlich das Staatsoberhaupt, faktisch aber bemächtigte er sich auch der Rolle des Regierungschefs. Der Präsident mischt sich in allen Bereichen ein, auch in zweitrangige Themen der Regierungsarbeit. Außerdem entscheidet er alle personellen Fragen. Die Dekrete des Präsidenten haben eine höhere Gesetzeskraft als die des Parlaments, der Nationalen Versammlung.
Politische Mobilisierung
Meiner Ansicht nach läuft die Förderung der Unterstützung der Bevölkerung für die Re-gierung ambivalent. Auf der einen Seite versucht die Regierung, wie es typisch in einem au-toritären System ist, den Bürger davon zu überzeugen, dass Politik Sache des Präsidenten sei. Er selbst ist dazu fähig, alle Probleme zu lösen: Er kann den Preisanstieg stoppen, über Gehälter entscheiden, mit der Korruption aufräumen, Firmen „schaffen“ und ist im Stande, bei der Einholung der Ernte mitzuhelfen. Den Leuten bleibt nur die Aufgabe, sich über dieses Leben zu freuen, welches ihnen der Präsident garantiert.
Auf der anderen Seite wendet die staatliche Macht oft Elemente der politischen Mobili-sierung an: es werden Volksfeste in verschiedenen Städten organisiert und Großveranstal-tungen wie der Slawjanski Basar. Solche Maßnahmen und Veranstaltungen sind und waren kennzeichnend für einen gewissen Sultanismus.
Pluralismus
Es ist nicht wahr, wenn behauptet wird, in Belarus gäbe es keinen Pluralismus. Es gibt wirtschaftlichen und sozialen Pluralismus, aber es gibt keine Garantie, dass die Bürger keine völlig willkürlichen Eingriffe seitens der Machtstrukturen hinnehmen müssen.
Die Massenmedien werden in Belarus strikt von der Regierung kontrolliert. Der Staat hat eine Monopolstellung im Bezug auf Radio und Fernsehen. Der neugegründete unabhängige Fernsehsender Belsat, der aus Polen sendet, kann mit den staatlichen Fernsehsendern BT, ONT und anderen Fernsehsendern der Regierung nicht konkurrieren. Viele beliebte Zeitungen wurden aufgrund ihrer scharfen Kritik an Lukaschenko geschlossen. Daher haben die politischen Parteien in Belarus wenig Möglichkeit, am politischen Wettbewerb um das Parla-ment und lokale Ämter teilzunehmen. Über ihr politisches Programm wird meist nicht berich-tet.
Menschenrechte
Belarus kann als echter Polizeistaat bezeichnet werden. Die Anzahl der Polizeikräfte und der Soldaten, die auch im Inneren eingesetzt werden können, ist erschreckend hoch. Ihre hauptsächliche Pflicht besteht darin, den Präsidenten zu schützen, Straßenproteste und op-positionelle Treffen zu zerschlagen, eine Atmosphäre der Furcht in der Gesellschaft auf-rechtzuerhalten – und nicht in der Kriminalitätsbekämpfung.
Unter Lukaschenkos Führung verschwanden in den ersten Jahren politische Rivalen spurlos, danach wurde vor allem gegen wichtige Geschäftsmänner mit harten Repressionen vorgegangen, und in letzter Zeit werden politische Gegner Lukaschenkos eingesperrt. Da viele Menschen aufgrund von Verwaltungsangelegenheiten belangt werden, steigt die Anzahl politischer Gefangener nicht wesentlich.
Das belarussische Regime kann aufgrund des Führungsstils, des eingeschränkten Plura-lismus und der Lage der Menschenrechte als autoritär bezeichnet werden. Dennoch herrscht in Belarus kein totalitäres Regime: die Repressionen richten sich bisher nur gegen die politi-schen Gegner und nicht gegen die Massen.
