Igor Sokołowski: Wir sollten nicht mit einer Revolution rechnen
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus rücken immer näher. Unter welchen Bedingungen werden diese abgehalten und was können wir erwarten – das erklärt Igor Sokołowski, Autor des Buches „Belarus für Beginner" (Original "Białorus dla początkujących", Anm. d. Red.), im Exklusiv-Interview für den BelarusVotes-Blog.
Welche Rolle spielen die Wahlen im politischen System von Belarus? Wozu gibt es Wahlen in einem autoritären Regime?
Theoretisch, so die gängige Meinung in Westeuropa, werden Wahlen in Belarus abgehalten, um das demokratische Gesicht eines undemokratischen Staates zu zeigen. Politiker, Experten und Kommentatoren in Europa glaubten für gewöhnlich, dass das alles speziell für sie gespielt wird. Ich denke, das ist der falsche Ansatz. Wahlen werden in Belarus eher für die interne Politik des Landes abgehalten. Die Umfrageergebnisse werden benutzt, um Lukaschenkos unhinterfragbare Führung und seine Position in der politischen Hierarchie zu bekräftigen. Gleichzeitig geben Sie eine perfekte Möglichkeit, das Unvermögen der Opposition zu demonstrieren. Wenn es um die Nominierung eines eigenen Kandidaten geht, gehen die Meinungen der demokratischen Gruppierungen für gewöhnlich auseinander, vovon letztlich der amtierende Präsident profitiert.Wie war das bei den Wahlen 2010 und welche Einstellung seitens der Staatsmacht können wir in diesem Jahr erwarten? Wäre eine Wiederholung des gewaltsamen Szenarios möglich?
Die Wahlen 2010 waren sehr spezifisch. Ich fand Lukaschenkos Reaktion auf die Proteste irrational und unangemessen für das, was tatsächlich stattgefunden hat. Die Auflösung der Demonstration wie auch die Repressionen gegen die Oppositions-Kandidaten waren so, als wenn man auf Moskitos mit einer Schrotflinte schießt. Das war ein unnötiger Fehler. Lukaschenko hat Belarus und die ganze Welt an sein diktatorisches Gesicht erinnert, aber er hat nichts gewonnen, was er nicht auch ohne Gewalt bekommen hätte. Ich denke, der Präsident wird solche Unfälle bei den bevorstehenden Wahlen vermeiden. Außerdem bezweifle ich, dass die Opposition stark genug ist, um eine so große Demonstration wie vor fünf Jahren auf die Beine zu stellen. Eine Wiederholung der Ereignisse von 2010 sollte also nicht stattfinden.Gab es in den vergangenen fünf Jahren irgendwelche bedeutenden Veränderungen im belarussischen Regierungssystem?
Lukaschenkos Wahrnehmung der internen Politik hat sich absolut nicht verändert. Gegebenenfalls gab es einige Korrekturen in der Staatspolitik, die nur auf Grund aktueller Bedürfnisse unternommen wurden. Auf jeden Fall keine fundamentalen Veränderungen in der Logik des belarussischen Systems. Lukaschenko ist immer noch das unbestrittene Oberhaupt, das politische System ist immer noch vertikal, eine Pyramide mit dem Präsidenten an der Spitze. Im Kern ist der Status Quo erhalten.Die diesjährigen Wahlen werden vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine abgehalten. Welchen Einfluss hat dieser Umstand auf die Wahlen?
Die Ereignisse in der Ukraine haben fundamental die belarussische Sicht auf die internationalen Beziehungen verändert, insbesondere unter den nächsten Nachbarn. Erstens hat ein bedeutender Teil der Belarussen angefangen, Russland als potentiellen Aggressor zu betrachten. Zweitens haben Lukaschenkos zuvor vom Westen belächelte Versprechen, den Frieden zu bewahren, eine deutliche Aktualität bewiesen. Während Europa die Ukraine für dessen nächste Revolution gelobt hat (welche die Ukraine jedoch nur schwächer machte), hat Lukaschenko kontinuierlich seine sog. „Stabilisierungspolitik" umgesetzt. Schließlich schaffte er es, den Frieden im eigenen Land zu bewahren, während sich im südlichen Nachbarland ein Krieg entfesselte. Belarussen wissen das gewöhnlich zu schätzen und verstehen, dass das Andauern des Lukaschenko-Regimes die beste Garantie ist, eine Katastrophe zu vermeiden.
Lukaschenko hat sich als vorausschauender Politiker bewiesen und hat in der gegenwärtigen Situation gute Chancen, als echter Staatsmann in die Geschichte einzugehen. Darüber hinaus spielte er eine bedeutende Rolle bei den Friedensgesprächen bezüglich der Ukraine. Dadurch dass Belarus den diplomatischen Kontakt mit Kiew nicht abgebrochen hat, ist Lukaschenko derzeit der einzige europäische Politiker, der gute Beziehungen sowohl zu Poroschenko als auch zu Putin pflegt. Bis vor kurzem galt Minsk noch als eine eher unbedeutende Stadt für den Westen – nun waren alle Augen Europas auf die belarussische Hauptstadt als Ort der Friedensverhandlungen gerichtet. Paradoxerweise wurde Lukaschenko zum größten Gewinner des Konflikts ohne direkt in diesen involviert zu sein. Das wird sich natürlich auch in den Wahlergebnissen widerspiegeln.
Wie können die aktuellen Beziehungen innerhalb des Unions-Staates (von Russland und Belarus) den Verlauf der Wahlen beeinflussen? Und wie könnten die Wahlen die derzeitigen Beziehungen zwischen Minsk und Moskau beeinflussen? Werden beide Seiten versuchen, ihr eigenes Spiel in der Situation zu spielen?
Wahlen in Belarus sind immer eine exzellente Gelegenheit, um das zu tun. Beispielsweise lässt Moskau irgendeine informelle Information in Umlauf bringen, nach der einer der Kandidaten die offizielle Unterstützung Moskaus erhalten könnte. Gleichzeitig zögert man mit einer offiziellen Unterstützung für Lukaschenko. Während der letzten Wahlen wurden Gerüchte gestreut, dass Wladimir Nekljajew angeblich politische und finanzielle Unterstützung vom Kreml erhielte. Gleichzeitig wurde diskreditierendes Material über den belarussischen Präsidenten in russischen Medien veröffentlicht. Erst kurz vor der Wahl hat Russland die Zweifel beseitigt und sich offiziell für die Kandidatur von Lukaschenko ausgesprochen.
Können wir in diesem Jahr mit der gleichen Strategie rechnen?
Dieses Mal ist die Situation eine andere. Einerseits hat der Russische Botschafter in Belarus schon im Juni 2015 die Unterstützung des Kremls für Alexander Lukaschenko verkündet. Andererseits hat Russland immer noch verschiedene Instrumente, um Druck auf Belarus auszuüben...
Und wie können die Wahlen die Beziehungen zwischen Belarus und der Europäischen Union beeinflussen? Können wir mit einer „neuen Öffnung" rechnen?
Natürlich können wir eine neue Öffnung erwarten, aber wir sollten nicht mit einer Revolution von Lukaschenkos Haltung zum Westen rechnen. Ich würde eher sagen, dass wir eine weitere Wiederholung der vergangenen Ereignisse in den belarussisch-westlichen Beziehungen erleben können. Diese sind manchmal positiv, manchmal negativ, jedoch immer abhängig von Lukaschenkos aktuellen Bedürfnissen. Und das gleiche gilt für die belarussisch-russischen Beziehungen. Würde man die beiden Beziehungen auf einen Graphen eintragen, so würden sie perfekt von zwei Sinuswellen wiedergegeben, die sich gegenseitig ergänzen. Einfacher gesagt: Wenn Lukaschenkos Beziehungen zu Putin nicht besonders gut sind, wendet er sich an Europa. Wenn Europa beginnt seine Ansprüche zu erhöhen, welche für den belarussischen Präsidenten unbequem sind – dann wendet er sich wieder zurück an Russland. Das ist die eine Sache, die sicher ist – während der Wahlen und auch danach.