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Marco Fieber

Lukaschenkos Integrationsträume.
Interview mit Astrid Sahm

„Belarus Votes“ befragte die Politikwissenschaftlerin und Belarus-Expertin Astrid Sahm zum aktuellen Stand der belarussisch-russischen Beziehungen. Sahm schreibt regelmäßig über die Entwicklungen in Belarus, sie ist stellvertretende Vorsitzende der deutsch-belarussischen Gesellschaft.

Am Sonntag, den 4. Oktober, demonstrierten in Minsk Hunderte gegen die Pläne zur Errichtung eines russischen Luftwaffenstützpunkts auf belarussischem Territorium, am 6. Oktober erklärte Alexander Lukaschenko nun, dass es dazu keine Pläne gebe. Reines innenpolitischen Taktieren vor der Wahl oder deutliches Signal gen Moskau?

Die Bewertung der Äußerungen Lukaschenkos als rein wahltaktisches Kalkül greift zu kurz. Der Kreml hat sein Interesse an einer Ausdehnung seiner Militärpräsenz schon im Frühjahr 2014 im Kontext der Krim-Annexion unmissverständlich deutlich gemacht. Bereits damals war Lukaschenkos öffentlichen Äußerungen anzumerken, dass er von diesem Ansinnen wenig begeistert ist. Er sah sich jedoch gezwungen, den russischen Plänen vorerst zuzustimmen, um freie Hand für eine eigene, pro-aktive Politik gegenüber der neuen ukrainischen Führung zu erhalten. De facto hält er eine verstärkte russische Militärpräsenz in Belarus für eine potentielle Bedrohung der belarussischen Souveränität – und damit seines eigenen Machtanspruchs. Es war daher zu erwarten, dass Lukaschenko geeignete Anlässe zu einer Distanzierung von diesen Plänen nutzen wird.

Jury Tschawussau sieht die Freilassung der politischen Gefangen zwar als kleinen politischen Schritt, aber dennoch eher symbolisch. Als Vorstandsmitglied bei der „Assembly of NGOs of Belarus“, der größten Vereinigung von pro-demokratischen Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen in Belarus, kennt er die Problemlage genau. Der 1997 gegründete Verband vertritt mehr als 300 Organisationen, darunter viele, deren Registrierung staatlicherseits abgelehnt wurde. „Sowohl die belarussische Gesetzgebung als auch die aktuellen Strafverfolgungspraktiken sind nicht wirklich förderlich für die Entwicklung von gemeinnützigen Organisationen“, erklärt Tschawussau. Im Gegensatz zur Verfassung des Landes und seiner internationalen Verpflichtungen ist die Vereinigungsfreiheit sehr eingeschränkt, Aktivitäten von nicht registrierten Organisationen werden strafrechtlich verfolgt.

Da Wladimir Putin am 19. September 2015 von russischer Seite den Text der Vereinbarung über die Errichtung des Luftwaffenstützpunkts freigegeben und die Unterzeichnung angeordnet hat, war Lukaschenko sozusagen gezwungen, öffentlich Stellung zu beziehen. Aus den aktuellen Erklärungen Lukaschenkos folgt jedoch nicht, dass er sich letztendlich den russischen Plänen verweigern wird. Es dürfte ihm vielmehr darum gehen, seine Zustimmung möglichst teuer zu verkaufen und vom Kreml mehr Gegenleistungen, beispielsweise in Gestalt von Finanzkrediten, zu erhalten. Zudem könnte der belarussische Präsident darauf hinarbeiten, dass die Stationierung neuer russischer Flugzeuge und anderer Waffensysteme nicht unter dem Label eines russischen Stützpunkts, sondern unter bilateraler Ägide erfolgt. Denn sein Statement vom 6. Oktober richtet sich explizit gegen die Errichtung eines russischen Waffenstützpunkts, bringt jedoch zugleich ein grundsätzliches Interesse an der Lieferung zusätzlicher russischer Waffen nach Belarus zum Ausdruck.

Belarus ist insbesondere wirtschaftlich und energiepolitisch eng mit Russland verbunden. Treibt Lukaschenko mit seinen gegen die russische Politik gerichteten Äußerungen nicht ein riskantes Spiel? Oder will er Brüssels Aufmerksamkeit?

Lukaschenko spielt bereits seit Jahren einen recht geschickten Integrationspoker: Den Kreml-Interessen zuwiderlaufende Aktivitäten werden dabei stets durch grundsätzliche Loyalitätsbekundungen gegenüber Russland oder Zugeständnisse an Moskau in anderen Politikfeldern flankiert. Damit wird das Risiko, aktive Gegenmaßnahmen des Kremls zu provozieren, reduziert. Diese Politik hat es Lukaschenko bisher erlaubt, möglichst viele Vorteile für sein Regime aus den bilateralen und eurasischen Integrationsprozessen zu ziehen sowie die Einschränkung der belarussischen Souveränität in Grenzen zu halten. Dabei dient dem belarussischen Präsident auch die Option einer intensivierten Kooperation mit der EU als Drohinstrument, um seine Position gegenüber dem Kreml zu stärken und sich eine höhere Belohnung für seine aktive Mitwirkung an der eurasischen Integration zu sichern.

Sehen Sie ein Ende der jahrelang – mehr oder weniger erfolgreich – betriebenen Schaukelpolitik Belarus' zwischen Europäischer Union und Russland?

Nein, ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die belarussische Führung ist im Begriff, diese Schaukelpolitik weiter auszubauen. Denn sie möchte die Beziehungen zur EU nicht zu Lasten der Beziehungen zu Russland entwickeln, sondern möglichst viele Vorteile aus der Kooperation mit beiden Seiten zielen. Ihre Wunschvorstellung wäre daher der Abschluss eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Dementsprechend hat das belarussische Außenministerium in Gesprächen mit EU-Vertretern bereits mehrmals das Land als mögliche Dialogplattform für eine Annäherung zwischen beiden Zusammenschlüssen angeboten.

Dem Ausbau der belarussischen Beziehungen zur EU sind jedoch enge Grenzen gesetzt, solange das offizielle Minsk nicht zu innenpolitischen Reformen bereit ist und vorrangig auf eine Intensivierung der Kooperation in geopolitischen und wirtschaftlichen Fragen hinarbeitet. Zudem ist klar, dass die EU das Land niemals in dem Umfang finanziell unterstützen wird, wie dies der Kreml in den letzten Jahren in Form von Krediten und Subventionen getan hat. Durch die Kooperation mit der EU will Lukaschenko daher vor allem seinen Handlungsspielraum gegenüber Russland erweitern, nicht aber eine Alternative zum eurasischen Integrationsprozess aufbauen.

Dies ist jedoch kein grundsätzliches Argument gegen die aktuelle EU-Politik, die auf den Ausbau pragmatischer Kooperation zielt, solange dieser nicht zu Lasten der Zivilgesellschaft erfolgt. Denn infolge des demographischen Wandels, der schleppenden industriellen Modernisierung oder des Einbruchs des russischen Absatzmarktes nimmt der Reformdruck in Belarus kontinuierlich zu. Damit wächst auch die Einsicht in die Notwendigkeit struktureller Reformen bei belarussischen Akteuren, deren Position die EU nur mit Hilfe von erweiterten Kommunikationskanälen stärken kann. Nur für den Fall, dass das Überleben der belarussischen Volkswirtschaft dank erfolgreicher Reformen nicht mehr von massiven externen Subventionen abhängen würde, wäre auch ein Ende der aktuellen Schaukelpolitik denkbar. Damit ist in absehbarer Zukunft jedoch nicht zu rechnen. Die EU-Politik gegenüber Belarus braucht daher einen langen Atem.

Wie sehr braucht umgekehrt Putin Belarus?

Belarus hat aus Sicht des Kremls in den vergangenen Jahren stets die Funktion eines Lockvogels gespielt, um andere GUS-Staaten zum Beitritt zu einem von Moskau dominierten Integrationsraum zu bewegen. So wurden beitrittswilligen Staaten beispielsweise die gleichen Vorzugspreise für Energielieferungen in Aussicht gestellt, wie sie Belarus – mit Ausnahme der kurzen Annäherungsphase an die EU in den Jahren 2008 bis 2010 – bereits seit mehreren Jahren genießt. Des Weiteren kommt Belarus eine wichtige strategische Bedeutung als Vorposten an der Außengrenze zur NATO zu. Zudem ist das Land für russische Wirtschaftsakteure interessant, die dort praktisch frei von westlicher Konkurrenz agieren können. Angesichts mehrerer gescheiterter Versuche, in anderen postsowjetischen Staaten politische Machtwechsel im russischen Sinne zu beeinflussen, verfolgt der Kreml schließlich nicht aktiv das Ziel, Präsident Lukaschenko durch eine andere Führungsperson zu ersetzen. All diese Faktoren schränken Moskaus Möglichkeiten der Druckausübung auf Lukaschenko ein und ermöglichen diesem, seinerseits mit gewissen Erfolgsaussichten Forderungen an Moskau zu formulieren. Dabei handelt es sich selbstverständlich nur um eine asymmetrische Interdependenz. Denn letztendlich sitzt der Kreml im Fall der Fälle am längeren Hebel.

Autor

Marco Fieber ist Projektleiter von Belarus Votes und Vorsitzender von Libereco – Partnership for Human Rights in Deutschland. Zurzeit studiert er Osteuropastudien in München.

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PARTNERSCHAFT

Das Teaserbild ist eine Bearbeitung von "Belarus" von Marca Veraarta, es steht unter CC-BY-Lizenz.