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Anne Reis, Susanne Maslanka

„Ich wollte es mit meinen eigenen Augen sehen.“ Ein Interview mit einem ehemaligen unabhängigen Wahlbeobachter

Über 43.000 Wahlbeobachter waren während des Abstimmungsprozesses und dem Auszählen der Wählerstimmen zwischen dem sechsten und elften Oktober 2015 im Einsatz. Die meisten von ihnen waren jedoch nicht unabhängig oder von Nichtregierungsorganisationen entsandt, sondern hatten eine Verbindung zum Staat. Einen Tag vor dem diesjährigen Wahltag haben wir ein Interview mit Juri Batschyschtscha geführt: Er nahm an den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2006 als unabhängiger Wahlbeobachter teil. Aufgrund seiner Tätigkeit wurde er von der Belarussischen Staatlichen Pädagogischen Universität, an der er damals als Professor arbeitete, entlassen. Die Manipulationen und Wahlrechtsverletzungen, die Batschyschtscha vor 9 Jahren beobachtete, traten auch dieses Jahr wieder auf.

Zur Zeit arbeitet Juri Batschyschtscha als Dozent an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) in Vilnius. Er lehrt dort die Geschichte von Belarus, sowie das Fach „Religions- und Kulturerbe“. Obwohl er in Vilnius unterrichtet, wohnt er die meiste Zeit in Minsk bei seiner Familie.

Im Jahr 2006 entschloss sich Batschyschtscha dazu sich als unabhängiger Wahlbeobachter in einem Wahllokal in Minsk aufzustellen. Dazu musste er Unterschriften von 20 Bürgern sammeln, die ihn in seinem Wunsch unterstützten. Er fragte seine Nachbarn und Freunde und konnte genügend Unterschriften für die Registrierung als Wahlbeobachter sammeln. Im Jahr 2015 dagegen wird er die Wahlen nicht beobachten. Batschyschtscha erklärt: „Ich werde auch nicht wählen. In diesem Land gibt es keine freien Wahlen.“

Was waren ihre Aufgaben als Beobachter während der Wahlen 2006? Was konnten Sie dort beobachten?

Während der ersten Tage war ich vollkommen frei, ich konnte alles beobachten was ich wollte: Wahlurne, Wahlzettel, Wählerlisten. Die lokale Wahlkommission erlaubte es mir den gesamten Prozess zu verfolgen. Was mir dabei auffiel: Die Anzahl der Wahlzettel war geringer als die Anzahl der für das Wahllokal vorgesehenen Wähler. Außerdem waren in den Wahllisten die Namen ausländischer Personen aufgeführt. Bei Präsidentschaftswahlen dürfen aber nur belarussische Staatsbürger wählen. Ich forderte daher die Wahlkommission auf, dies zu ändern. Deren Mitglieder kümmerten sich am nächsten Tag darum, sodass ich keine offiziel-le Beschwerde einreichte. Am dritten Tag kamen Mitglieder der Wahlkommission auf mich zu und sagten, dass sie mir zu viel erlauben würden. Am letzten Wahltag beobachtete ich mehr Verletzungen des Wahlrechts: So konnte ich zum Beispiel den Auszählprozess der Wähler-stimmen nicht genau beobachten. Dafür konnte ich die Protokolle sehen, in die später die Stimmenverteilung eingetragen werden sollte. Zu meiner Überraschung waren diese bereits von Mitgliedern der Wahlkommission unterschrieben worden - ohne dass darauf Zahlen zu finden waren. Wie konnten sie die Protokolle unterschreiben, ohne dass sie die genauen Zahlen kannten? Im Wahllokal habe ich zunächst keine provozierenden Fragen gestellt, da ich verstanden habe, dass die anderen Wahlbeobachter für das Regime waren, und eine Beschwerde nutzlos gewesen wäre.

Aus welchen Leuten war die Wahlkommission zusammengesetzt und wer waren die anderen Beobachter?

Während des vorzeitigen Wählens, das heißt die sechs Tage vor dem tatsächlichen Wahltag, war ich der einzige Wahlbeobachter in meinem Wahllokal. Am tatsächlichen Wahltag er-schienen sechs weitere Beobachter. Da ich das erste Mal Wahlen beobachtet habe, dachte ich, das wäre normal. Später, als ich mit anderen darüber gesprochen habe, verstand ich aber, dass diese Leute nur geschickt wurden um Druck auf mich auszuüben und meinen Beschwerden zu widersprechen. Fast alle Wahlbeobachter hatten irgendetwas mit der Firma Galanteja – einem Lederwarenunternehmen – zu tun oder waren von regimetreuen Organi-sation geschickt worden. Nur ein anderer Beobachter war ebenfalls unabhängig. Er gehörte der liberal-demokratischen Partei an, welche den kontrovers diskutierten Kandidaten Sergej Gaidukewitsch unterstützt. Dieser Wahlbeobachter trank sehr gerne. Passenderweise lud die Wahlkommission am Sonntagmorgen alle Wahlbeobachter ein, Alkohol zu trinken. Natürlich habe ich nichts getrunken. Nachdem der Gaidukewitsch-Unterstützer eine Stunde die Wahl beobachtet hatte, war er schon betrunken. Er hat mir sogar versprochen, mich zu unterstützen, falls ich eine Beschwerde einreichen wolle. Das habe ich aber abgelehnt.

Eigentlich sollten auch die Mitglieder der Wahlkommission unabhängig sein – so steht es im Gesetz. In meinem Wahllokal bestand die komplette Kommission aus Arbeitern der Firma Galanteja. Der Vorsitzende der Kommission war, wenn ich mich recht erinnere, ein Abteilungsleiter in dieser Firma.

Hatten Sie wenigstens die Chance, über die Vorfälle eine Beschwerde einzureichen?

Als die Wahlkommission begann, mich unter Druck zu setzen, ging ich zur regionalen Wahlkommission und reichte eine Beschwerde ein. Ich beschwerte mich über die verschiedenen Vorkommnisse: Im Wahlkodex steht, dass eine Wahlkommission aus unabhängigen Menschen bestehen müsse und dass sie nicht nur aus Mitarbeitern einer Firma oder Partei bestehen dürfe. Zudem machte ich darauf aufmerksam, dass die Anzahl der Wahlzettel nicht mit der Anzahl der Wähler übereinstimmte. Ich denke aber, dass diese Beschwerden am Ende niemand gelesen hat. Die Person, die meine Beschwerden entgegen nahm, war ein Mitglied der kommunistischen Partei. Ich habe außerdem keine Illusionen darüber, dass meine Beschwerden irgendeine Wirkung gehabt haben könnten. Ich denke, sie wurden einfach weggeworfen.

Wie haben die Wahlkommission und die offiziellen Stellen auf ihre Beschwerden reagiert?

Am zweiten Tag meiner Wahlbeobachtung bekam ich einen Anruf von meinem Abteilungsleiter in der Universität. Er war sehr interessiert daran, was ich im Wahllokal mache. Ich war etwas überrascht über diese besondere Aufmerksamkeit. Ich habe ihm einfach gesagt, dass ich ein Wahlbeobachter sei und ich das Ganze in meiner Freizeit mache. Am nächsten Tag rief er mich wieder an und sagte mir, dass ich einen Termin mit dem Rektor der Universität wahrnehmen müsse. Einige Prorektoren waren bei dem Treffen auch anwesend. Sie fragten mich, was ich im Wahllokal mache, wen ich repräsentiere und ob ich ein Mitglied einer Partei sei. Ich habe ihnen einfach gesagt, dass ich eine legale Sache mache. Indem sie all diese Dinge fragten, wollten sie mich unter Druck setzen.

Nach dem Gespräch sagte der Abteilungsleiter zu mir, dass alles in Ordnung sein werde, wenn ich nicht zu „aktiv“ beobachten würde. Bei unserem nächsten Gespräch wollten mich die Vorgesetzten zwingen, die Universität freiwillig zu verlassen und zu kündigen. Da ich nichts Illegales getan habe und nur in meiner Freizeit beobachtet habe, antwortete ich ihnen, dass ich nicht kündigen werde. Ich habe mich zudem bei offiziellen Stellen beschwert, dass ich zu einem Treffen mit meinem Chef wegen meiner Tätigkeit als Wahlbeobachter eingeladen wurde.

Am Montag, also am Tag nach dem Wahltag, kam in der Universität jemand in meinen Seminarraum. Ich wurde während des Seminars gebeten nach draußen zu kommen. Dann wurde ich darüber informiert, dass mir gekündigt wurde, da ich mich unmoralisch verhalten hätte. Mir wurde gesagt, dass einer meiner Studenten eine Beschwerde darüber geschrieben habe, dass ich CDs mit Cartoons über Lukaschenko verteilt habe, die ihn und unser Land diskreditieren würden. Der Student habe dies von einem anderen Studenten erfahren. Der Vorwurf war aber nicht wahr. Daraufhin bin ich vor Gericht gezogen, da ich grundlos entlassen wurde. Das Gericht ermittelte und lud den Studenten ein, der die Beschwerde über mich verfasst hatte. Sie fragten ihn, ob der Vorwurf stimme. Ich verlangte, dass man mir die CDs zeigen solle. Denn ich wollte überprüfen, wann und wo dieses aufgenommen worden waren. Wie sich herausstellte, wurden die CDs an der Universität im Büro der Studentenvertretung erstellt.

Ich bin auch vor den Obersten Gerichtshof in Belarus gezogen, aber es hat alles nichts geholfen. Der Richter hat sich auf die Seite der Universität gestellt, damit wurde ich rechtskräftig gefeuert. Leider sind in Belarus auch die Gerichte nicht unabhängig. Seitdem habe ich einen besonderen Eintrag in meinen Arbeitszeugnissen, der besagt, dass ich wegen unmoralischen Verhaltens gefeuert wurde. Deswegen kann ich in Belarus nicht mehr als Hochschullehrer arbeiten. Ein Jahr nachdem ich meinen Job verloren hatte, wurde ich eingeladen an der EHU zu arbeiten. Dort gab einer der Professoren etwas von seiner Arbeit an mich ab.

Gibt es eine Möglichkeit, diesen Eintrag aus ihren Zeugnissen entfernen zu lassen?

Wenn unser Staat demokratisch werden würde, hätte ich wohl eine Chance diesen Eintrag entfernen zu lassen, um auch wieder in meinem Beruf in Belarus arbeiten zu können. Ich könnte auch noch einmal versuchen vor Gericht gegen die Entscheidung zu klagen. Ein anderer Weg wäre, meine Zeugnisse zu verlieren und von Neuem zu beginnen. Das wäre also ein kompletter beruflicher Neuanfang. Das wäre die einzige Möglichkeit für mich momentan wieder in Belarus zu arbeiten.

Wieso haben Sie sich dazu entschlossen, ein unabhängiger Wahlbeobachter zu werden? Und wie haben Ihre Familie und Freunde darauf reagiert?

Auf irgendeine Weise hing meine Entscheidung mit meinem Glauben zusammen – ich bin Christ. Ich habe einfach versucht die Wahrheit zu finden. Ich wollte mit meinen eigenen Augen sehen, was sich abspielt. Die Entscheidung traf ich gemeinsam mit meiner Frau. Sie hat mich gut verstanden und unterstützt. Ich erfuhr auch Unterstützung durch meine Freunde und die Kirchengemeinde. Einige Leute sammelten sogar Geld für mich, als ich arbeitslos war.

Meine Eltern haben mich dagegen nicht verstanden. Sie leben auf dem Land, haben keine höhere Bildung und sind sehr von den staatlichen Medien beeinflusst. Zu Beginn erzählte ich Ihnen noch nicht einmal, dass ich gefeuert wurde. Sie wussten nicht, dass ich als Wahlbeobachter gearbeitet habe, da ich nicht viel Kontakt mit Ihnen habe.

Was waren Ihre Erwartungen an die Tätigkeit als Wahlbeobachter? Hatten Sie Hoffnungen?

Im Jahre 2006 hatte ich tatsächlich die Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte. Es gab einen gemeinsamen demokratischen Kandidaten, Alexander Milinkewitsch. Mir sagte er zu, da er gebildet war und als Patriot auftrat. Zudem teilte ich seine christlichen Ansichten. Natürlich hatte ich schon über Manipulationen und Wahlrechtsverletzungen bei den Wahlen 2001 und 2004 gehört, aber bis dahin hatte ich selbst nie am politischen Prozess teilgenom-men. 2006 wollte ich es selbst sehen.

Nach meinen damaligen Erlebnissen verstand ich, dass es in Belarus keine Wahlen gibt. Die Zahlen stehen schon vorher fest, die Wählerstimmen werden nicht korrekt gezählt und gesammelt. Die Regierung interessiert sich nicht für unsere Wahlentscheidung. Am Wahlabend im Jahr 2006 fand eine Protestdemonstration auf dem Oktoberplatz statt. Menschen protestierten gegen die Wahlergebnisse. Ich nahm natürlich auch daran teil, da ich die Fälschungen mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Deshalb ging ich 2010 nicht zu den Wahlen und werde auch dieses Jahr nicht gehen. Ich will nicht meine Zeit verschwenden.

Autorinnen

Anne Reis studiert Osteuropastudien in München.
Susanne Maslanka beschäftigt sich mit Belarus, seitdem sie 2009-2010 einen Freiwilligendienst in der Kleinstadt Pinsk im Süden des Landes geleistet hat. Zurzeit studiert sie Osteuropastudien in München.

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PARTNERSCHAFT

Das Teaserbild ist eine Bearbeitung von "Belarus" von Marca Veraarta, es steht unter CC-BY-Lizenz.