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Bartosz Rutkowski, Maciej Zaniewicz, Marcin Rychły

Tatjana Karatkewitsch: „Wir brauchen mehr Europa in Belarus“

Unser Konzept für das Interview mit Tatjana Karatkewitsch war ursprünglich dazu gedacht, den Kontext der belarussischen Präsidentschaftswahlen aufzuzeigen – die geteilte Opposition, eine Politikerin, der vorgeworfen wird, mit Lukaschenkos Regime zu kollaborieren, und die erste offiziell registrierte weibliche Präsidentschaftskandidatin.

Wir erwarteten eine starke Persönlichkeit, Beharrlichkeit und einen feministischen Ansatz – ein Symbol, das einfach von der westeuropäischen Leserschaft verstanden werden kann. Waren wir am Ende überrascht? Wir hoffen, das Interview beantwortet diese Frage. Bedenken Sie jedoch, dass die derzeitige politische Lage in Belarus eher dem Polen Anfang der 1990er Jahre ähnelt als einem modernen, demokratischen Staat, an den ein EU-Bürger gewöhnt ist.

BelarusVotes: Mikalai Statkewitsch, einer der oppositionellen Führer behauptet: „Tatjana Karatkewitsch ist ein Niemand. Sie wird von Andrei Dmitriew unterstützt, einer niveaulosen und niederträchtigen Person, die alle oppositionellen Aktivisten verraten und mit dem KGB kollaboriert hat.“

Tatjana Karatkewitsch: Diese Denkweise ist charakteristisch für die Opposition in Belarus: wenn du erfolgreich in der Politik bist, dann musst du mit dem KGB zusammengearbeitet haben. So was das jedenfalls bei Milinkiewitsch der Fall, der gute Resultate erzielte. Auch er wurde beschuldigt, die Regimepolitik rein zu waschen und ein „Projekt“ der Geheimdienste zu sein.

Und was die Oppositionellen angeht, müssen wir bedenken, dass sie schon so lange in der Politik aktiv sind wie Lukaschenko selbst. Sie scheinen vergessen zu haben, was direkte Arbeit mit Menschen bedeutet.

Ich glaube nicht, dass Statkewitsch das vergessen hat. Unmittelbar nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis begann er Demonstrationen und Mahnwachen zu organisieren.

Der Unterschied ist, dass ich so etwas jeden Tag mache, während Statkewitsch nur zweimal während seiner Kampagne Demonstrationen veranstaltet hat. Anders als ich kooperiert er mit Menschen, die keine Absicht haben, im politischen Prozess mitzumischen. Damit handelt Statkewitsch eigentlich zu Gunsten der derzeitigen Regierung, die die Leute daran gewöhnt hat, dass Wahlen keine Bedeutung haben.

Es gibt allerdings einen erheblichen Unterschied zwischen Statkewitschs Aktionen und Ihren eigenen. An seinen Demonstrationen nehmen hunderte Menschen teil. Im Gegensatz dazu ist die Beteiligung an Ihren Veranstaltungen, etwa in Dubrowna und Orscha, eher gering.

Die von Statkewitsch organisierten Demonstrationen finden in Minsk statt, das zwei Millionen Einwohner hat. Etwa 300 Menschen nehmen daran teil, davon sind 100 KGB-Agenten, die die Situation kontrollieren sollen.

Ich möchte nicht mit jemandem um Teilnehmerzahlen konkurrieren. Derzeit geben viele potenzielle Wähler an, dass sie nicht wählen gehen, sondern die Wahl stattdessen boykottieren werden und auf eine Veränderung des politischen Klimas warten.

Ich denke, dass Lebedko und Kalyakin den Boykott nicht unterstützen würden, wenn sie selbst genug Unterstützerunterschriften gesammelt hätten. Stattdessen würden sie sich jetzt auf ihren Wahlkampf konzentrieren. Erst nachdem sie daran gescheitert waren, genug Unterschriften zu sammeln, haben sie angefangen, über Fälschungen während der Unterschriftensammlung zu sprechen.

Was ist der Grund dieser Feindschaft zwischen den Oppositionsführern? Warum hat die Belarussische Volksfront (BVF) Ihnen zunächst ihre Unterstützung zugesagt, diese aber später wieder aufgekündigt?

Ein Teil der Opposition ist des Ausbleibens von Erfolgen müde. Diese Opposition hat Führer, die nicht austauschbar sind.

Wen meinen Sie genau?

Lebedko, Kalyakin, Statkewitsch... Sie sind alle nicht austauschbar.

Können Sie trotzdem erklären, warum ein Teil der Opposition ihre Unterstützung zurückgezogen hat?

Eine mögliche Erklärung ist purer Neid. Trotzdem möchte ich klarstellen, dass die BVF keine einheitliche Haltung zu meiner Kandidatur hat. Sechs meiner 30 Vertrauensleute repräsentieren ebenfalls die BVF. Einer von Ihnen ist Igor Ljalkow, der derzeitige Vizepräsident der BVF. Was die Partei im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen offiziell nicht akzeptiert hat, ist die Tatsache, dass ich nicht ohne Weiteres die belarussische Sprache als offizielle Landessprache anerkennen wollte.

Würden Sie ernsthaft erwägen, mit dem Lukaschenko-Regime zusammen zu arbeiten?

Tatsächlich arbeiten wir mit dem Staat regelmäßig zusammen. Wenn zum Beispiel ein Problem in Orscha auftaucht, dann melden wir es bei den örtlichen Abgeordneten und Behörden. Wir geben unser Bestes, ihre Entscheidungen zu beeinflussen.

Sind Ihre Bemühungen erfolgreich?

Auf jeden Fall! Bei den letzten Parlamentswahlen beispielsweise hatten wir einen sehr guten Kandidaten, der ehemals als Vizevorsitzender im Minsker Stadtrat saß. Ich kann ihn jederzeit anrufen und ihn über die aktuellen Probleme in unserem Ortsgebiet informieren. Er hört mir immer gut zu und greift ein, wenn es nötig ist. So sollte es sein.

Wurden Sie jemals vom Regime an der Ausübung Ihrer politischen Tätigkeit behindert?

Natürlich. Zum Beispiel liegen unsere Veranstaltungsorte, die vom Staat genehmigt werden müssen, sehr ungünstig. Um den Schein zu wahren, konnten alle unsere Veranstaltungen in Minsk in bester Lage stattfinden. Unsere Veranstaltungen außerhalb der Hauptstadt finden dagegen in den heruntergekommensten Gegenden statt. Es scheint sogar, als würden die Menschen gewarnt, z.B. in den Schulen, nicht zu diesen Veranstaltungen zu gehen.

Stellen wir uns das folgende Szenario vor: Lukaschenko gewinnt die Wahlen, aber diese stellen sich als gefälscht heraus. Dies wiederum führt zu ähnlichen Protesten wie vor fünf Jahren. Würden Sie in einem solchen Fall auch auf die Straße gehen und sich den Protesten anschließen?

Voraussichtlich werde ich nicht zu Protesten aufrufen. Unser System schafft nicht die Bedingungen für friedliche Proteste. Ich werde um die Stimmen kämpfen, die gefälscht wurden – aber mit friedlichen Mitteln. Ich werde nicht nur zum Protest aufrufen, damit Leute mit Schlagstöcken auf den Kopf geschlagen werden.

Welche zentralen Reformen sollten Ihrer Meinung nach in Belarus durchgeführt werden?

Zuallererst sollten wir ein parlamentarisches System einführen, das auf einer echten Gewaltenteilung beruht. Darüber hinaus sollten wir bessere Bedingungen für den privaten Sektor schaffen, die möglichen Amtszeiten des Präsidenten auf zwei begrenzen und unser Bildungs- und Gesundheitssystem reformieren.

Was ist Ihre Haltung zur Todesstrafe?

Ich persönlich bin absolut dagegen. In der Gesellschaft sieht das etwas anders aus, sie ist gespalten. Viele Menschen in Belarus befürworten die Todesstrafe, aber ich denke, dass wir sie vom Gegenteil überzeugen können.

Eine Frage zu Polen: Wie sollen die Beziehungen zwischen Belarus und Polen in Zukunft aussehen?

Unsere Beziehungen mit Polen sollten auf einem allgemeinen Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union aufbauen. Wir würden uns ebenfalls bemühen, eine bilaterale polnisch-belarussische Zusammenarbeit aufzunehmen, um eine Reform der Selbstverwaltung nach polnischem Vorbild einzuleiten.

Mein anderes Hauptanliegen ist es, ein Projekt für den kleinen Grenzverkehr zwischen Polen und Belarus auszuarbeiten und Visumsbeschränkungen zu verringern, damit mehr Polen in unser Land kommen. Und letztendlich ist es für uns auch wesentlich, dass Belarus sich am Bologna-Prozess beteiligt.

Was ist Ihre Meinung in der Frage der polnischen Minderheit in Belarus?

Selbstverständlich sollte die polnische Minderheit das Recht auf Bildung in polnischer Sprache besitzen, und das Recht, ihre Kultur zu pflegen.

In der Außenpolitik bemüht sich Belarus, zwischen Westen und Osten zu balancieren. In Ihrer politischen Agenda sprechen Sie von „freundschaftlicher Nachbarschaft“ und schlagen eine starke Zusammenarbeit sowohl mit der EU als auch mit Russland vor. Manchmal kommt man aber nicht umhin, eine Wahl zu treffen. Würden Sie eher die Beziehungen zur EU oder zu Russland stärken wollen?

Eine Partnerschaft mit der EU liegt für Belarus in weiter Ferne. Darum sollte das vorrangige Ziel unseres Landes sein, die Beziehungen mit Europa zu normalisieren. Darüber hinaus kann man die allgemeine nationale Stimmung nicht ignorieren. Die belarussischen Bürger fürchten drastische Schritte in Richtung Europa. Sie haben Angst, dass ein solcher abrupter politischer Wandel letztendlich so wie in der Ukraine endet. Im Moment scheint ein europäischer Weg irreal, und so ist es für Belarus entscheidend, gutnachbarliche Beziehungen mit Russland aufrecht zu erhalten und sich daneben schrittweise der EU anzunähern.

Was sind die drei Dinge, welche die EU nicht über Belarus weiß bzw. in ihrer Vorgehensweise gegenüber Belarus ändern sollte?

Die EU führte zuletzt sehr aktiv Gespräche mit unserer Regierung, gewisse Veränderungen in den gegenseitigen Beziehungen sind also möglich.

Das ist auch für uns wichtig. Aber man sollte nicht die klare Spaltung zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft vergessen, die in Belarus herrscht. Gerade die Zivilgesellschaft kann in der Zukunft demokratische Veränderungen garantieren, Darum muss die Europäische Union gegenüber Belarus einen zweigleisigen Ansatz verfolgen.

Zweitens spricht man in Europa wenig über Belarus. Wir brauchen mehr EU-Projekte in Belarus; wir wären froh, wenn mehr Menschen aus EU-Mitgliedsstaaten nach Belarus kämen. In dieser Hinsicht war sogar die Eishockey-Weltmeisterschaft der Männer 2014 in Minsk nützlich, sie hat sich als enormer Entwicklungsanstoß für unsere Gesellschaft erwiesen. Dank dem haben die Belarussen endlich erfahren, wer sie wirklich sind. Ihnen wurde klar, dass sie keine Russen sind.

Gibt es tatsächlich so himmelweite Unterschiede zwischen Russen und Belarussen?

Ja. Russen sind völlig verrückt. Sie wirken unkultiviert und respektlos. Im Ausland heben sogar Belarussen stets hervor, dass sie keine Russen sind. Darum brauchen wir mehr Europa in Belarus.

Was würde mit Alexander Lukaschenko passieren, wenn Sie die Wahlen gewinnen würden? Würden Sie ihn hinter Gitter bringen, ihn beschützen, oder ihm gestatten das Land zu verlassen?

Ich würde ihm sicherlich nicht erlauben, Belarus zu verlassen, ohne irgendeine Verantwortung zu tragen. Man sollte seine Sicherheit garantieren. Dazu kann das Gefängnis, das er sich selbst gebaut hat, dienen – seine Residenz. Anschließend sollte ihm ein legaler, fairer und zivilisierter Prozess garantiert werden.

Autoren

Maciej Zaniewicz ist Journalist and studiert Oststudien an der Uni Warschau. Er ist Redakteur für Eastbook.eu.

Marcin Rychły ist Journalist für Eastbook.eu

Bartosz Rutkowski

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PARTNERSCHAFT

Das Teaserbild ist eine Bearbeitung von "Belarus" von Marca Veraarta, es steht unter CC-BY-Lizenz.