powered by eastbook
Maciej Zaniewicz

Demokratisierung oder politisches Kalkül: Warum ließ Lukaschenko die politischen Gefangenen frei?

Am Samstag, den 22. August, reagierten die Medien wie elektrisiert auf die Nachricht, dass alle sechs politischen Gefangenen in Belarus freigelassen wurden.

Alexander Lukaschenko überraschte mit dieser Entscheidung nahezu alle, und immer mehr Politiker und Experten sehen im Handeln des belarussischen Präsidenten Anzeichen für eine beginnende Liberalisierung des Regimes.

Es lohnt jedoch, Lukaschenkos Politik noch einmal genau anzuschauen und darüber nachzudenken, ob gewisse Schlüsse nicht übereilt gezogen werden: Dann nämlich erscheint es durchaus möglich, dass das Schicksal der politischen Gefangenen gar nicht von der innenpolitischen Lage abhängt. Die politischen Gefangenen sind eine der Karten, die Lukaschenko in seiner Außenpolitik ausspielt. An Öl und Gas ist Belarus alles andere als reich – an unbeugsamen Bürgern hingegen schon.

Um zu verstehen, wie die belarussische Außenpolitik funktioniert, müssen wir uns einige Tatsachen vergegenwärtigen. Belarus verfügt über keinerlei nennenswerte Rohstoffvorkommen, auf die sich seine Wirtschaft stützen könnte. Darum erfüllte zu Sowjetzeiten die Belarussische SSR zwei Funktionen: zum einen Lebensmittel zu liefern, zum anderen Produkte auf Erdölbasis, Fahrzeuge und Maschinen herzustellen. Es ist daher nicht falsch, von Belarus als dem Land der Kartoffeln und Traktoren zu sprechen. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Belarus kann seine Produkte auf Erdölbasis nur aus russischem Erdöl herstellen. Verkaufen kann Belarus sein Benzin und seine Chemie indes nur, solange es dieses Erdöl zu niedrigen Sonderpreisen bezieht. Kurz gesagt: Ohne das günstige russische Erdöl kommt die belarussische Wirtschaft zum Stillstand, und Lukaschenkos System bricht zusammen.

(Keine) Brudervölker

Die Russen verwenden als Bezeichnung für Belarussen und Ukrainer gerne den Begriff „Brudervölker.“ Gleichzeitig herrscht die Meinung vor, dass die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau mustergültig und freundschaftlich sind. Nichts könnte falscher sein. Zwischen Lukaschenko und Putin stimmt die Chemie nicht. Ihre gegenseitige Abneigung reicht bis in die neunziger Jahre zurück, als Lukaschenko Boris Jelzins Erbe antreten und Präsident eines mit Belarus vereinten Russland werden wollte. Dazu wurde eine russisch-weißrussische Konföderation, der Unionsstaat von Russland und Belarus (russ. SGRB, belaruss. SDRB), geschaffen. Lukaschenkos Pläne durchkreuzte kein anderer als Wladimir Putin. Zuerst schlug er dem „Batka“ vor, dass Belarus Teil der Russischen Föderation werden solle. Als Lukaschenko dies ablehnte, begann Putin, wirtschaftlichen Druck auf Belarus auszuüben. Symbol der neuen Epoche wurden Putins Worte aus dem Jahr 2002: „Vergessen wir nicht, dass die Wirtschaft von Belarus nur drei Prozent der Wirtschaft Russlands entspricht. Lasst uns Fliegen und Frikadellen trennen.“

Putins Plan war einfach und erfolgreich. Er beruhte auf einer schrittweisen Anhebung der Öl- und Gaspreise und sogar einem temporären Zudrehen des Ölhahns im Jahr 2007. Lukaschenkos System begann zu knirschen. Ölen ließ es sich nur durch Kredite aus dem Ausland. Infolgedessen wuchs die belarussische Auslandsverschuldung allein in den Jahren 2007 bis 2012 von 589 Millionen auf beinahe 12,5 Milliarden US-Dollar.

Alles steht zum Verkauf

Lange Zeit kam Lukaschenko ohne Kredite aus. Als Russland jedoch begann, die Rohstoffpreise zu erhöhen, sah sich das Regime dem Schreckensbild eines völligen Verlusts der Unabhängigkeit durch den Ausverkauf zentraler Staatsbetriebe gegenüber. Der Ausweg aus dieser verfahrenen Situation erwies sich als überraschend einfach. Man entschied sich, statt Fabriken die Freiheit der Gefangenen zu verkaufen, und seine Treue. Denn der Westen bietet Belarus Kredite im Gegenzug für Demokratisierung, Russland hingegen für Unterordnung. Angesichts dessen entschied Lukaschenko, eine Zeit lang die Daumenschrauben zu lockern, um mit westlichen Führern ins Gespräch zu kommen und einen prowestlichen Kurs vorzutäuschen… und anschließend in Moskau aus diesem Kurs Kapital zu schlagen. Das erste Manöver dieser Art wurde 2008 ausgeführt. Damals ließ Lukaschenko drei Gewissensgefangene (Alexander Kasulin, Smitser Daschkewitsch Alexander Zdzwischkow) sowie zwei politische Gefangene (Artur Finkewitsch und Andrej Klimow – der erste politische Gefangene, der bereits 1997 verurteilt worden war) frei. Daraufhin setzte die Europäische Union ihre Sanktionen aus, ein Jahr später wurde die Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen. Lukaschenko wurde auch vom Internationalen Währungsfonds großzügig belohnt: mit einem Kredit über 3,5 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2010 besuchten auch die Außenminister Polens und Deutschlands Minsk. Sie versprachen Lukaschenko im Austausch für Demokratisierung die nächsten 3,8 Milliarden US-Dollar an Kredit aus „verschiedenen Quellen“.

Die Legalisierung des Regimes

Seither sind fünf Jahre vergangen, und bis zum 22. August saßen in Belarus immer noch mehrere politischen Gefangenen in Haft. Auch sieht das Strafrecht bis heute für einige Verbrechen die Todesstrafe vor. Kann man, wie es viele Experten gerne tun würden, die Freilassung der sechs politischen Gefangenen als Signal an den Westen nach dem Motto „Ich bin bereit zu Veränderungen“ verstehen? Man darf zweifeln. Belarus handelt derzeit einen Kredit über 3,5 Milliarden US-Dollar mit dem Internationalen Währungsfonds sowie einen über drei Milliarden US-Dollar mit dem Eurasischen Fonds für Stabilisierung und Entwicklung, einer vom Kreml abhängigen Struktur, aus. Die Freilassung der Gefangenen bringt hingegen für Lukaschenko keinerlei politisches Risiko mit sich – Statkewitsch kann durch den späten Termin seiner Entlassung bei den Wahlen nicht mehr antreten, die belarussische Opposition ist völlig zersplittert. Komplettiert wird dieses Bild durch den Konflikt der oppositionellen BNF (Belarussische Volksfront) mit der zuvor von ihr unterstützten Präsidentschaftskandidatin Tatjana Korotkewitsch.

Alles deutet darauf hin, dass Lukaschenko bei den bevorstehenden Wahlen nicht nur mit dem Sieg, sondern auch mit der Legalisierung des Regimes rechnen kann. Denn zum ersten Mal ist die Opposition derart schwach, dass es so wenig Fälschungen geben könnte, dass die OSZE die Wahlen als demokratisch anerkennt. Auf diese Weise ginge die Ära der „letzten Diktatur Europas“ zu Ende – allerdings ohne einen Schritt in Richtung Demokratisierung vonseiten Lukaschenkos.

Autor

Maciej Zaniewicz ist Journalist und studiert Oststudien an der Uni Warschau. Er ist Redakteur bei Eastbook.eu und Chefredakteur der polnischen Version von Belarus Votes.

ZURÜCKarrow

PARTNERSCHAFT

Das Teaserbild ist eine Bearbeitung von "Belarus" von Marca Veraarta, es steht unter CC-BY-Lizenz.