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Daniel Marcus

Belarussen mit Flügeln und Wurzeln

Sie reisen um die Welt und verdienen dabei in drei Tagen mehr als ihre Eltern im Monat. Eine Geschichte über zwei digitale Nomaden und einen Wandel jenseits der Politik.

Foto: © Pascha und Natascha, Island 2015.

Natascha und Pascha sind vor wenigen Tagen aus Island zurückgekommen, wo sie einander das Ja-Wort gegeben haben. Nun warten sie in Minsk, am Eingang des Gorki-Parks, der mit seinen Karussells und Fahrgeschäften schon zu Sowjetzeiten junge Familien angezogen hat. Für das Gespräch bitten sie in eins der neueren Cafés nebenan. Dort, wo man aus endlosen Kaffeesorten auswählen kann und idealerweise sein iPad mitbringt. Bei einem Becher Latte macchiato erzählen die Frischvermählten von Ihrer Hochzeit und auch von den zahlreichen Reisen davor.

Seit über einem Jahr leben die beiden fast häufiger in Airbnb-Ferienwohnungen auf der ganzen Welt als in ihrer eigenen Wohnung in der belarussischen Hauptstadt: Zunächst haben Sie einen ganzen Monat in Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland verbracht. Kurz danach ging es für insgesamt drei Monate in das Vereinigte Königreich, nach Irland, Portugal, Italien Tschechien und noch mal nach Deutschland, bevor sie sich dann im Frühjahr für einen weiteren Monat in das indonesische Tropenklima verabschiedeten.

Ob in Manchester, Bali oder Lissabon – Pascha und Natascha können praktisch überall arbeiten, wo es Internet gibt. Beide profitieren davon, dass viele Unternehmen Arbeitsplätze dorthin auslagern, wo das Lohnniveau niedriger ist. In der IT-Branche ist das in Zeiten der weltweiten Vernetzung besonders leicht geworden: So sitzt Paschas Unternehmen in den USA. Gemeinsam mit Ukrainern entwickelt er dort eine Software zur Verwaltung von Therapieplänen. Seinen Vorgesetzten hat er persönlich noch nie gesehen, die komplette Kommunikation läuft virtuell. Über E-Mail, Skype und Slack.

Natascha programmiert Internetseiten. Auch sie arbeitete für eine US-amerikanische Firma. Diese sitzt zwar in San Francisco und bedient hauptsächlich Kunden aus den USA, doch ein Großteil des Teams kommt aus Belarus. Ihren Abschluss hatte sie in Wirtschaftswissenschaften gemacht. Wer in Belarus auf Staatskosten studiert, verpflichtet sich, im Anschluss an das Studium zwei Jahre lang in einem staatseigenen Betrieb zu arbeiten. So landete Natascha zunächst in der Marketing-Abteilung einer staatlichen Fabrik, wo sie umgerechnet zwischen 100-150 US-Dollar im Monat verdiente.

Davon konnte sie jedoch kaum leben. Als erwachsener Mensch mit Hochschulabschluss wollte sie von ihrer Familie keine Unterstützung mehr annehmen. Die Perspektive, ganze zwei Jahre mit dieser unbefriedigenden Tätigkeit und in prekärsten Bedingungen zu leben, machte sie zunehmend unglücklich.

Eines Tages erzählte sie auf der Hochzeit einer Freundin von ihrem Leid. Zufälligerweise suchte zur gleichen Zeit der Geschäftsführer eines kleinen IT-Unternehmens noch nach personelle Unterstützung. Er gab Natascha die Chance nachts, noch nach der regulären Arbeit, für ein kleines aber notwendiges Zubrot zu arbeiten. Der Jungunternehmer gab ihr viel Anleitung und führte sie in die Grundlagen der Website-Programmierung ein.

In der Fabrik musste sie letztendlich nicht die vollen zwei Jahre ableisten, sondern konnte sich bereits nach einem halben Jahr „freikaufen“. Dabei spielte ihr die Währungskrise 2011 in die Hände: Der belarussische Rubel verlor innerhalb von wenigen Wochen rapide an Wert, sodass sich der Betrag der abzuarbeitenden bzw. nachzuzahlenden Studiengebühren umgerechnet von einst über 6000 auf nur noch 2000 US-Dollar verringerte. Seit dem arbeitete Natascha in verschiedenen Technologie-Unternehmen. Dort profitierte sie von ihren Programmierkenntnissen, die sie sich mühsam in den Nächten nach der regulären Arbeit angeeignet hatte.

In einem dieser Unternehmen lernte Sie schließlich Pascha kennen. Pascha hatte schon während seines Informatik-Studiums an verschiedenen Stellen als Programmierer gearbeitet. Zunächst arbeitete er für eine belarussische Firma. Als er jedoch herausfand, dass der ausländische Auftraggeber für seine Arbeit über 30 US-Dollar pro Stunde bezahlte, von denen er selbst jedoch nur 8 US-Dollar erhielt, beschloss er als Freelancer künftig selbst nach Auftraggebern zu suchen.

Dafür gibt es zahllose Auftragsbörsen im Internet. Diese sind transparent und werden kontrolliert, die Auftraggeber werden bewerten und auch jeder Dienstleister erhält eine Bewertung. Pascha baute sich so eine gute Reputation auf und landete schließlich bei seinem jetzigen Auftraggeber, wo er nun fest angestellt ist.

Zwischen den Löhnen die Natascha und Pascha inzwischen erwirtschaften und dem belarussischen Gehaltsdurchschnitt liegen Welten: Als Lehrerin unterrichtete Nataschas Mutter Belarussisch und Literatur. Damit verdiente sie umgerechnet 350 US-Dollar im Monat. Ihre Tochter hingegen erhält diesen Betrag bereits nach wenigen Tagen Arbeit. Pascha erinnert sich, wie seine Eltern in den 1990er Jahren Flaschen sammeln mussten, um über die Runden zu kommen – er selbst sammelt heute Bonusmeilen von Fluggesellschaften. Innerhalb von nur zwei Jahren konnten Natascha und Pascha alle die Länder bereisen, die ihre Eltern nur aus Erzählungen oder dem Fernsehen kannten.

Das junge Paar hält sich generell von politischen Dingen fern. Obwohl – oder gerade weil – sie natürlich genau wissen, welches Spiel in ihrem Land gespielt wird. Der belarussische Staat kann ihnen auch weitgehend egal sein. Denn anders als ein Großteil ihrer Mitbürger sind sie weitgehend unabhängig vom System. Ihr Gehalt bekommen die beiden von privaten Unternehmen aus dem Ausland, das staatliche Gesundheitssystem nehmen sie nicht in Anspruch, da sie nur private, direkt bezahlte medizinische Versorgung nutzen. Auch ihre Altersvorsorge betreiben sie eigenständig.

Als belarussische Staatsbürger müssen sie sich nahezu bei jeder Reise mit Visumsanträgen herumschlagen. Eine Auswanderung wäre aufgrund ihrer Qualifikation nicht schwierig. Doch daran wollen die beiden zur Zeit nicht denken. Auch wenn sie die Ferne lieben, kommen sie immer wieder gerne zu Familie und Freunden in die vertraute Heimat zurück.

Autor

Daniel Marcus hat Philosophie studiert und als Freiwilliger in Minsk gearbeitet.

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PARTNERSCHAFT

Das Teaserbild ist eine Bearbeitung von "Belarus" von Marca Veraarta, es steht unter CC-BY-Lizenz.